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Viel Spaß dabei!

Leseprobe

aus "Milo und das Geheimnis von Polyrica"

Prolog

Ich schlich im Schutz der Nacht vorbei an schnarchenden Bettlern und anderen zwielichtigen Gestalten in die dunkelste Ecke von Coholmia. Es stank nach Elend und Krankheit.
Der Vollmond machte es mir nicht leicht, ungesehen zu meinem Freund zu gelangen. Zudem schmatzte der Matsch unter mir mit jedem Schritt, den ich tat, und der Sack mit dem Essen auf meiner Schulter wurde immer schwerer. Ich war nur noch wenige Häuserecken von dem geheimen Eingang entfernt, da traten plötzlich zwei Schatten auf die Straße und kamen auf mich zu. Schnell bog ich in die nächste Seitengasse ab und drehte mich nicht um. Es durfte niemand erfahren, dass ich zu Dinitos ging.
Kurz darauf erreichte ich die alte Lagerhalle, an deren Fassade sich wilder Efeu den Weg hinauf bahnte. Ich schlüpfte durch den mit morschen Holzbrettern vernagelten Eingang. Früher wäre ich um diese Uhrzeit noch auf geschäftige Arbeiter getroffen. Mein Vater hatte mir erzählt, dass vor Jahrzehnten noch fahrende Händler aus den entferntesten Gegenden von La’Dentrya hierhergekommen waren. Wenn ich sie doch nur irgendwann einmal erkunden könnte.
Ich stieg die Steintreppe am anderen Ende der Halle hinab in den dunklen, fensterlosen Gang. Mit zwei Feuersteinen entzündete ich die Laterne und nahm die beiden Abzweigungen zu meinem Freund.
Zunächst stellte ich die Bretter zur Seite, um den geheimen Einstieg freizulegen. Dann öffnete ich die Tür, ließ die Regalreihe hinter mir und war endlich bei ihm. Den Sack legte ich auf die Werkbank neben die noch ausgerollten Pergamente von vorgestern mit Titeln wie »Vom Schlüpfen eines Vari«, »Vom Tropfen zur Woge« oder »Von der Brise zum Wind«.
Dann kümmerte ich mich um Dinitos. Er blickte mich immer so traurig an, dass ich ihn am liebsten befreit hätte. Aber ich konnte nicht. Noch nicht. Ich streichelte ihm über seine feuchte Schnauze und die kleinen Ohren. Aber Dinitos war kein einfacher Braunbär. Auf seiner Stirn thronten zwei ellenlange spitze Hörner und er hatte den Körper eines schneeweißen Stiers. Er war mein Vari. Und ich wollte ihm so viel beibringen, wie ich nur konnte.
Als er mit dem linken Vorderhuf einen Schritt nach vorne machen wollte und die bereits gespannte Kette dies nicht zuließ, schnaubte er wütend und warf den Kopf mit einem kurzen Brüllen so heftig zurück, dass ich meine Hand augenblicklich wegziehen musste. Ich war nicht schnell genug gewesen. Seine Zähne hatten mich am Handgelenk erwischt. Sofort trat Blut hervor und ich presste den Ärmel auf die verletzte Stelle. Es tat nicht sehr weh, ich spürte aber ein unangenehmes Ziehen. Ich konnte ihm nicht böse sein. Schließlich war er seit seiner Geburt angekettet.
»Bald, Dinitos«, flüsterte ich. »Bald müssen wir uns nicht mehr verstecken. Dann zeigen wir den Leuten, dass Vari keine Monster sind. Dass du kein Monster bist, mein lieber Freund.«
Würde man herausfinden, dass ich einen Vari besaß, würden wir beide hingerichtet werden.
Ich holte mir ein Stück Stoff aus einer Kiste und band es mir um mein Handgelenk, um die Blutung zu stillen. Dann ging ich zurück zu den Regalen über der Werkbank und suchte nach dem keramischen Topf mit der Aufschrift »Ginkgo«, der sich zwischen »Ingwer« und »Sanddorn« befand. Ich nahm vier Blätter, füllte eine Schale mit etwas Wasser und vermengte alles mit einem Stößel.
»Wenn du das isst, müsstest du den Wind besser beeinflussen können«, sagte ich zu Dinitos und hielt ihm die Schale hin. »Das hat zumindest Meister Kildar so niedergeschrieben.«
Dinitos schnupperte zunächst nur an dem Brei und zog den Kopf zurück. Ich schüttelte daraufhin die Schale ein wenig in der Hand, beinahe so, als ob sich etwas Süßes darin befände. Dinitos wagte sich nach kurzem Überlegen erneut vor und steckte die Schnauze in die Schale. Dann öffnete er sein Maul und schleckte den Brei mit einem Mal heraus.
»Ich puste in die Luft und du machst einen Wind daraus«, sagte ich, ließ mich neben ihm nieder und blies von der Seite vor sein Gesicht. Im selben Moment, in dem Dinitos dazu ansetzte, ebenfalls zu pusten, spürte ich einen Ruck tief im Innern meines Körpers. Es entstand eine Sturmbö, welche ich sonst nur draußen auf dem Ozean erlebt hatte. Es pfiff in meinen Ohren und im nächsten Augenblick schleuderte der Wind die gestapelten Kisten gegen die Steinmauer. Ein ohrenbetäubender Lärm entbrannte, ehe der Wind mit einem Mal stoppte. Hier unter der Erde konnte uns zum Glück niemand hören.
Es hatte geklappt! Voller Freude umarmte ich Dinitos und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
»Dinitos«, sagte ich und strich meinem Vari über das weiche Fell, »uns steht eine große Zukunft bevor.«

 

Kapitel 1

Milo rechnete jede einzelne Aufgabe noch ein drittes Mal durch, obwohl erst die Hälfte der Zeit vergangen war. Die Uhr im Klassenzimmer tickte regelmäßig. Von den Schülern war kein Laut zu vernehmen, bis auf ein vereinzeltes Räuspern oder Husten. Das Plätschern des Regens nahm er kaum wahr, da es von den dicken Fenstern und kalten Steinmauern gedämpft wurde. So konnte sich Milo konzentrieren und wurde von nichts und niemandem gestört. Lineare Funktionen und Potenzrechnung - für ihn fühlten sich die Aufgaben wie das kleine Einmaleins an. Er hatte keine Schwierigkeiten damit, die Zahlen in seinem Kopf zu jonglieren und auf die richtige Lösung zu kommen. Egal ob ganze Zahlen oder Brüche: Der Taschenrechner war nur ein Hilfsmittel, um seine Rechnungen zu überprüfen - für die meisten seiner Mitschüler war er jedoch unverzichtbar.
Nachdem Milo bereits zum vierten Mal all seine Rechenwege geprüft hatte, zeigte seine neue Armbanduhr noch zehn verbleibende Minuten an. Sie lag neben seinem alten Federmäppchen aus Leder, sodass er sie jederzeit sehen konnte. Vor ein paar Wochen hatte er sie zufällig bei einem Einkaufsbummel mit seiner Mutter entdeckt, als sie auf der Suche nach sommertauglichen Schuhen für ihn gewesen waren. Eine dezente, flache Uhr mit braunem Lederarmband, Dornschließe und römischem Ziffernblatt. Sie war ihm direkt ins Auge gesprungen, obwohl sie neben all den monströsen und schweren silbernen Uhren mitsamt Datumsanzeige, Weltuhrfunktion und Wasserdichtigkeit beinahe so weit in der Ecke der gläsernen Vitrine lag, dass man sie fast übersehen hätte. Aber Milo war sie aufgefallen, und als er sie am Vortag zu seinem Geburtstag in den Händen gehalten hatte, war er überglücklich gewesen.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die ersten Mitschüler damit begannen, ihre Sachen einzupacken. Der grelle Aufprall der Füller, die in den Blechetuis landeten, das Quietschen der Stühle, die nach hinten geschoben wurden, sowie das Rascheln der Aufgabenblätter, die ihren Weg in die Klassenarbeitshefte fanden, läuteten unüberhörbar das Ende der Stunde ein. Milo konnte sich nicht mehr konzentrieren, doch als er genervt zu einem der Störenfriede aufblickte, schenkte dieser ihm nur ein lautloses »Pech gehabt!«.
Ihr Lehrer, Herr Mendum, rief die letzte Minute aus, und Milo überprüfte zum gefühlt zwanzigsten Mal, ob er alle Endergebnisse unterstrichen hatte, die Aufgabenblätter keine Rückseite mit weiteren Aufgaben besaßen und ob sein Name auf jedem Aufgabenblatt richtig geschrieben stand: »Milo Goldberg«. Alles war korrekt und endlich löste sich seine Anspannung. Er reichte Herrn Mendum sein Heft und band sich seine Uhr um. Dann atmete er tief aus, sank für einen Moment in den Stuhl zurück und schloss die Augen.
»Na, Goldie, haben wir wieder eine Eins oder nur eine Eins minus?«, drang es von hinten in seine Ohren.
Er verzichtete darauf, sich umzudrehen und zu antworten. Stattdessen atmete er weiter ruhig vor sich hin.
»Hey, Mi-Loser, hörst du schlecht?«
Noch immer reagierte Milo nicht. Er wusste genau, wie es sonst ablaufen würde. Sie würden jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen und immer einen Grund finden, sich weiter über ihn lustig zu machen.
»Ich glaube, unser Goldjunge ist eingeschlafen. Putzt du nachts mit deiner Mutter die Schultoiletten, damit sie dir deine schäbigen Klamotten kaufen kann?«, hallte es an sein Ohr.
Milo schürzte die Lippen und ballte die Fäuste. Er öffnete die Augen und starrte auf seinen Tisch. Wie gern wollte er sich umdrehen und ihnen sagen, wie armselig sie sich verhielten, und ihre Geheimnisse preisgeben, die er ab und zu entdeckte, wenn er die einfallslosen Passwörter ihrer Online-Accounts knackte. Die Geburtsdaten waren dank der Klassenadressliste leicht auszumachen. Doch ehe sich die angestaute Wut in Milo entladen konnte, ging seine Tischnachbarin Emma dazwischen.
»Ihr seid so peinlich, wisst ihr das eigentlich?« Die Jungs lachten auf und klatschten in die Hände. »Vor allem du, Ben. Kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten, als dich an Schwächeren zu vergreifen.«
»Ach, Emma«, rief Ben ihr in einem Ton zu, wie man mit einem trägen Hund sprechen würde, »das geht dich doch gar nichts an.«
Milo dachte im Stillen an all die privaten Nachrichten im Internet von Ben an Emma. Vor knapp zwei Monaten hatte er damit begonnen, ihr plumpe Komplimente zu schicken. Wie schön er ihre blauen Augen, ihre dunkelblonden Haare, die sie meistens zu einem Dutt hochgesteckt hatte, und ihr ansteckendes Lächeln finde. Doch Emma hatte ihm nicht geantwortet. Auch nicht auf seine hartnäckigen Fragen nach einem Treffen nach der Schule. Milo hätte Ben dies jetzt alles an den Kopf werfen und ihn vor seinen Freunden als abgewiesenen Verehrer dastehen lassen können. Doch er tat es nicht. Einerseits weil er sonst noch mehr von Ben getriezt werden würde, und andererseits weil er nicht wollte, dass jemand von seinen heimlichen Spionageaktivitäten erfuhr.
Die Diskussion zwischen Ben und Emma musste so laut gewesen sein, dass Herr Mendum zu ihnen kam.
»Ich hoffe, ihr sprecht nur über die Arbeit. Wenn nicht, dann setzt das bitte draußen fort. Die Stunde ist vorbei.«
»Klar haben wir nur über die Arbeit gesprochen«, log Ben und tat so, als würde er Milo beim Verlassen des Raumes einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter geben. In Wirklichkeit stieß er ihm die andere Hand in den Rücken.
Milo regte sich nicht. Er wartete, bis Ben und die anderen gegangen waren. Dann stand er auch auf, packte seine Sachen aber so langsam wie möglich, damit er auf dem Heimweg nicht erneut auf Ben stieß. Er beobachtete Emma heimlich, wie sie ihren Rucksack auf den Tisch stellte und etwas darin suchte. Er mochte es, neben ihr zu sitzen. Emma war nicht so wie die anderen Mitschüler. Sie ignorierte ihn nicht die ganze Zeit, geschweige denn mobbte sie ihn.
Sie holte einen Zettel hervor und reichte ihn Herrn Mendum. »Hier, bitte schön. Meine Anmeldung zur Kopfrechnen-Weltmeisterschaft.«
»Ich hatte mich schon gefragt, wann ich sie von dir erhalte, Emma. Aber warte – da fehlt ja noch die Unterschrift deiner Eltern. Bring sie mir einfach nächste Woche. Was ist mit dir, Milo? Hattest du mir deine schon gegeben?«
»Ich?«, stammelte er. »Ja, vor zwei Wochen schon.«
»Richtig. Das verspricht eine spannende Weltmeisterschaft zu werden. In knapp drei Wochen wird es dann ernst. Habt ihr euch schon Gedanken gemacht, wie ihr nach Köln kommt?«
Sie beide schüttelten den Kopf.
»Es ist ja auch noch Zeit«, meinte Herr Mendum und machte eine wegwerfende Geste. »Und ich darf sowohl den Deutschen Meister als auch die Vizemeisterin zu meiner Klasse zählen. Das wird bestimmt aufregend!« Er blickte Milo und Emma abwechselnd mit großen Augen an.
»Gewiss«, antwortete Milo, während Emma schwieg und stattdessen nur kurz nickte. Sie wollte augenscheinlich nicht weiter mit Herrn Mendum sprechen und ihre Freundinnen nicht länger warten lassen.

Milo vermied auf dem Heimweg, sich Gedanken über die Klassenarbeit zu machen. Ganz im Gegensatz zu seinen Mitschülern, die sich immer unmittelbar nach der Stunde darüber austauschten. Er wollte nicht sofort wissen, was er falsch gemacht hatte. Sonst ärgerte er sich wochenlang, ehe er schließlich Gewissheit hatte, wenn er die Arbeit zurückbekam.
Der Regen hatte eine Pause eingelegt, weswegen er seinen Regenschirm vor sich kreisen ließ. Am Samstag hatte es noch ohne Unterbrechung geregnet, trotz angenehmer fünfzehn Grad. Am gestrigen Sonntag dann war ihm das Wetter wohlgesonnen gewesen und hatte ihm zu seinem Geburtstag noch ein paar Grad mehr geschenkt.
An der Kreuzung zur Klappergasse konnte er das blaue Schild vom Café »Hausbacken« sehen. Immer wenn seine Mutter Spätschicht hatte, ging er mittags in das kleine Café. Dort bekam er von der Inhaberin Rici, einer guten Freundin seiner Mutter, seine liebsten Gerichte und konnte seine Hausaufgaben machen.
Heute jedoch war seine Mutter zu Hause und er bog rechts ab. Er kam an dem kleinen Brunnen vorbei, in dem er noch nie Wasser gesehen hatte, und drehte sich kurz zur Seite, um die Spitze des Aachener Doms zu bestaunen. Er war stets von ihr fasziniert. Mitten in der Stadt thronte die mächtige Kirche, und Milo malte sich oft aus, wie die Kaiser und Könige früher in ihren Kutschen hierhergelangten, dieses riesige Bauwerk bestaunten und es mitunter so imposant fanden, dass sie sich dort krönen ließen.
Er konnte sich noch an den Tag erinnern, als ob es gestern gewesen wäre, als er mit seinen Eltern auf den Dom gestiegen war. Es sollte eine Überraschung zu seinem Geburtstag sein: endlich auf die Kathedrale hinauf, anstatt sie nur von unten zu sehen. Doch so gut es seine Eltern mit ihm gemeint hatten, schon beim ersten Schritt war ihm schwindelig geworden, er hatte begonnen zu schwitzen und seine Brust hatte sich wie zugeschnürt angefühlt. Er war unfähig gewesen, auch nur einen Schritt nach vorn zu machen, und hatte sich deshalb auf den Boden gesetzt und war zurück zur Treppe gerobbt. Seitdem vermied er es, von Brücken oder Hochhäusern hinunterzuschauen. Und den Dom betrachtete er deshalb lieber nur von außen.
Milo spürte jeden einzelnen Pflasterstein durch die durchgelaufenen Sohlen seiner Sneakers. Es fühlte sich fast so an, als würde er barfuß gehen. In Gedanken war er bereits zu Hause. Er bildete sich ein, schon den Duft von dampfendem Milchreis in seiner Nase zu haben, wie er es sich am Morgen von seiner Mutter gewünscht hatte. Dazu die süßlichen Noten von Apfelmus und Rosinen. Er musste nur noch durch die enge Passage neben der Tiefgarageneinfahrt gehen, in der es immer kalt war, egal ob Sommer oder Winter. Danach vorbei an den schönen kleinen Vorgärten im holländischen Stil und zu guter Letzt den anderen Ausgang der Tiefgarage auf der Parallelstraße überleben, der so steil war, dass er schon einige Autos gesehen hatte, die ohne Rücksicht auf Fußgänger und Radfahrer aus der Tiefe herausgeschossen waren.
Doch als er in die Passage einbog und seinen Blick erst nach einigen Metern vom Boden hob, sah er Ben am anderen Ende stehen. Milo stoppte augenblicklich und hielt den Regenschirm schützend vor sich. Ben grinste ihn hämisch an. Milos erster Instinkt war, so schnell wie möglich wegzurennen. Er drehte sich um und wollte zum Spurt ansetzen, den er gegen Ben und dessen deutlichen Bauchansatz mit Sicherheit gewonnen hätte, aber da traten auch schon Bens Freunde um die Ecke. Er war umzingelt. Milo blickte sich um. Rechts von ihm war die Wand, links von ihm die Einfahrt der Tiefgarage. Ihm blieb nichts anderes übrig: Er musste sich über die niedrige Mauer schwingen, ohne sich bei dem zwei Meter tiefen Sprung zu verletzen, und dann weglaufen. Er mochte zwar klein und schmächtig sein, aber dafür war er einer der Schnellsten der Klasse. Also stützte er sich auf die Mauer, um die Höhe besser einschätzen zu können - da blickte er in das Gesicht eines weiteren Peinigers.
»Ganz so dumm sind wir auch nicht, Goldie«, sagte Ben links von ihm und lachte.
Milo schluckte schwer. Er hätte sich selbst schlagen können. Wieso war er seinen üblichen Weg gegangen? Wieso hatte er keinen Umweg genommen? Ihm hätte klar sein müssen, dass Ben den Vorfall nach der Klassenarbeit nicht einfach ignorieren, brav nach Hause gehen und ihn erst am nächsten Tag wieder ärgern würde. Hätte er eins und eins zusammengezählt, wäre er jetzt nicht in dieser Lage.
»Oh, oh. Haben wir hier etwa ein kleines scheues Reh, das in Schockstarre verfallen ist?«, fragte Ben höhnisch.
Milo klammerte sich an die beiden Enden seines Regenschirms und presste sich mit dem Rücken an die Wand, damit Ben nicht auf die Idee kam, ihn über die Mauer in die Tiefgarageneinfahrt zu werfen.
»Jetzt ist keine Emma da, die dich beschützen kann«, sagte Ben und lachte weiter.
Seine Freunde machten mit und riefen Dinge wie »Milo liebt Emma« oder »Milo will einen Tante-Emma-Laden«.
Mit einem Mal packte Ben ihn am Arm und drückte fest zu. Er beugte sich zu Milo herunter, kam ihm ganz nah und starrte ihn mit ernstem Blick an. Milo zwang sich, ihm nicht in die Augen zu schauen und keinen Ton von sich zu geben. Ben drückte noch stärker zu und Milo zog vor Schmerzen die Augenbrauen zusammen. Dann ließ Ben ihn plötzlich los. Nur um ihn im nächsten Moment so am Schulranzen umherzuwirbeln, dass Milo gegen die Wand stieß und vor die Mauer stolperte. Sein Ellenbogen schmerzte.
»Na los, wehr dich doch«, stieß Ben hervor. »Zeig mir, was in deinen dünnen Ärmchen steckt.« Seine Freunde lachten.
Aber Milo blieb auf dem Boden hocken. Tränen rannen ihm das Gesicht herunter. Doch es lag nicht an seinen Schmerzen.
»Guck mal«, sagte einer von Bens Freunden, »Goldie flennt rum.«
Unter allgemeinem Lachen schaute Milo mit verschwommenem Blick an sein linkes Handgelenk. Der Sturz gegen die Mauer war nicht ohne Folgen geblieben. Das Glas seiner Uhr war von einem langen Riss gezeichnet, der sich über die gesamte Oberfläche zog. Was sollte er jetzt nur tun? Seine Mutter hatte dafür auf einige andere Ausgaben verzichtet. Sollte er ihr sagen, dass sie schon kaputt war? Nach zwei Tagen? Er schaute genauer hin und sah, dass sich die Zeiger noch bewegten. Vielleicht konnte er sie weiter tragen.
»Was hast du da eigentlich für eine schicke Uhr? Die hast du doch nicht etwa geklaut, oder?«, fragte Ben. Er musste bemerkt haben, dass Milo die ganze Zeit auf sein Handgelenk starrte. »Zeig mal her«, sagte er bestimmt und zog Milos Arm hoch.
Ohne sich zu wehren, ließ Milo ihn seine Armbanduhr abnehmen und sackte dann in sich zusammen.
Ben pfiff durch die Lippen. »Nicht schlecht, Goldie. Das ist echt eine schicke Uhr. Oder … sollte ich besser sagen: Das war echt eine schicke Uhr?« Wieder Gelächter. »Ich hätte dein Geschenk eigentlich liebend gern angenommen, aber die ist ja kaputt. Wieso läufst du mit einer kaputten Uhr herum? Gab es die billiger?«
Milo reagierte nicht. Seine Tränen waren versiegt. Er fühlte sich innerlich nur leer.
»Hier«, sagte Ben und warf Milo die Uhr vor die Füße, »die kann ich nicht gebrauchen«. Er stolzierte an Milo vorbei und verschwand mit den anderen um die Ecke.
Milo tastete nach der Uhr, band sie wieder um und untersuchte sie mit zittrigen Fingern. Die Zeiger bewegten sich nicht mehr. Er ließ die Hände in den Schoß sinken und die Tränen unaufhaltsam laufen. Erst als er vom Klappern des Tiefgaragentores aufgeschreckt wurde und den Motor eines Autos vernahm, rappelte er sich auf. Er strich die Hose glatt und rückte den Schulranzen zurecht. Dann schleppte er sich nach Hause. Die holländischen Vorgärten kamen ihm trist vor, und er war versucht, die vielen Krokusse, die sich weiß, gelb und violett der Sonne entgegenstreckten, mit einem Tritt zu entwurzeln. Doch er tat es nicht. Genauso wenig achtete er auf Autos, die in die Tiefgarage fahren wollten. Das Hupen des kompakten Viertürers war ihm egal. Nach wenigen Metern war er an der Haustür angelangt, holte den Schlüsselbund hervor und schloss die Tür auf.
Im Hausflur blickte Milo noch einmal auf die stillstehenden Zeiger seiner Uhr. Er nahm sie ab und steckte sie in die Hosentasche, ehe er die insgesamt vierundzwanzig Treppenstufen zur Wohnung emporstieg.
»Da bist du ja endlich! Hattest du nicht nur sechs Stunden?«, rief seine Mutter, als er die Tür ins Schloss fallen ließ.
»Herr Mendum wollte mich noch kurz sprechen«, log Milo.
Er legte seinen Schulranzen in den Flur und schlüpfte aus seinen Schuhen, ohne die Schnürsenkel aufzumachen. In der kleinen Küche mit Blick auf den Innenhof erspähte er den großen Topf voll dampfendem Milchreis, der auf dem Herd auf niedrigster Stufe vor sich hin köchelte.
Er schlich in sein Zimmer und legte die kaputte Uhr unter das Kopfkissen. Dann öffnete er den breiten Kleiderschrank aus Eichenholz, dessen mittlere Türen jedes Mal knarzten, wenn man sie bewegte. Er wollte sich seinen dicken, langärmligen Lieblingspullover nehmen, den er letztes Jahr von seinem Patenonkel Kasper geschenkt bekommen hatte, konnte ihn aber nicht finden. Wenn er nicht im Schrank war, lag er in der Regel hinter der Tür auf dem Wäschekorb, den seine Mutter regelmäßig leerte. So auch heute. Er zog ihn über, damit seine Mutter nicht sah, dass er die Uhr nicht mehr trug.
Im Bad wischte er sich die Spuren der Tränen weg. Als er die Küche betrat, kam sie auf ihn zu, trocknete sich kurz die nassen Hände an ihrer Küchenschürze ab und umarmte ihn innig. Sein Ellenbogen tat dabei zwar weh, doch er ließ es sich nicht anmerken. Dann gab sie ihm einen übertrieben langen Kuss auf den Kopf und fuhr ihm zum Abschluss noch einmal durch sein kastanienbraunes Haar. Sie setzte dabei ein solch liebevolles Lächeln auf, dass Milo nachvollziehen konnte, wie sich die Laune der Patienten im Krankenhaus besserte, sobald seine Mutter den Raum betrat. Das lag vermutlich auch an ihren offenen, lockigen Haaren, der rahmenlosen Brille und ihrer kleinen Nase. Letztere hatte sie an ihn weitergegeben.
Generell mochte er diese Art von Begrüßung nicht und machte auch keinen Hehl daraus, es zu zeigen. Meist klopfte er seiner Mutter zweimal sachte auf den Rücken, und wenn sie mit dem Kuss fertig war, strich er sich die Stelle im Haar wieder zurecht, die sie zuvor verunstaltet hatte. Auch heute tat er nichts anderes und ließ sich auf seinen Stuhl sinken.
»Jetzt stell dich nicht so an. Du kannst deiner Mutter ruhig ein wenig mehr Liebe entgegenbringen. Ist dir etwa kalt?«, fragte sie beiläufig und zeigte auf den Pullover, ging der Frage aber nicht weiter nach und füllte seinen Teller mit duftendem Milchreis. »Was hatte Herr Mendum denn noch mit dir zu besprechen?«
»Ach, nur wegen der Kopfrechnen-Weltmeisterschaft.« Als seine Mutter ihn erwartungsvoll mit großen Augen ansah, fügte er hinzu: »Ob ich schon die Anreise geplant habe und so. Du weißt ja.«
»Nein, ich weiß nicht. Und das soll eine halbe Stunde gedauert haben?« Sie hatte sich inzwischen auch hingesetzt, aber noch nicht den Teller gefüllt. Milo hatte gehofft, ihren Fragen aus dem Weg gehen zu können, indem er zu essen begann, doch im Hause Goldberg war es nun einmal so, dass erst mit dem Essen angefangen werden durfte, wenn jeder etwas auf dem Teller hatte. Er wusste genau, dass seine Mutter dies absichtlich tat, damit er ihr nicht ausweichen konnte.
»Ja, hat es. Da standen eben noch andere mit dabei, die Fragen hatten.«
»Andere? Wer denn?«
»Die kennst du nicht«, sagte er, damit seine Mutter die Eltern der »anderen« nicht beim nächsten Elternabend auf den Kopfrechnen-Wettbewerb ansprechen würde.
»Wie auch immer. Was haben sie denn gefragt?«
»Bis wann man sich anmelden muss und wo es stattfindet und so …«
»Montag, richtig? Ich habe gestern mit deinem Vater telefoniert«, sagte sie und füllte ihren Teller. »Er meint, du würdest dich bestimmt schon darauf freuen. Damit du das Stipendium gewinnst. Das ist doch dein Ziel, oder?«
»Ja … genau.« Er sagte nichts weiter und fing an zu essen.
Sie tat es ihm gleich, aber er konnte im Augenwinkel sehen, wie sie ihn beobachtete.
Nach ein paar Augenblicken der entspannten Stille ergriff seine Mutter wieder das Wort. »Warum hast du eigentlich so rote Augen?«
»Mir ist vorhin etwas ins Auge geflogen und dann hat es angefangen zu tränen.«
Sie schaute ihn skeptisch an. »Und wo ist eigentlich deine neue Uhr? Du hattest sie heute früh doch um, als du in die Schule gegangen bist.«
Er biss sich auf die Lippe und fluchte leise, was seiner Mutter einen Schreck einjagte.
»Was ist denn los mit dir?«
»Nichts ist los. Ich hab sie vorhin in meinem Zimmer abgelegt«, sagte er und versuchte, nicht zu aufgebracht zu wirken. Doch ihm schossen wieder die Szenen aus der Passage von vorhin durch den Kopf. Um Tränen zu unterdrücken, ballte er die Fäuste so heftig, dass sich die Fingernägel in die Hand gruben. Er ignorierte den Schmerz.
»Aber wieso denn?«
»Nur so.«
Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, schob seine Mutter den Stuhl zurück und stand auf.
»Nein, Mama - nicht.«
»Du lässt mir keine andere Wahl.« Sie hob drohend den Finger. »Haben sie dir die Uhr geklaut? Sag schon!«
»Nein, haben sie nicht.«
Doch seine Mutter gab sich nicht zufrieden, stapfte los in Richtung seines Zimmers und schüttelte Milos Hände ab, als dieser versuchte, sie aufzuhalten. Milo konnte nichts weiter tun, als mit wackligen Beinen im Türrahmen zu stehen. Sie durchforstete ohne eine Miene zu verziehen seine Kommode und die Schreibtischschubladen, ehe sie zum Bett ging. Er wusste genau, was passieren würde. Und das ließ ihm erneut die Tränen in die Augen schießen.
»Da ist sie doch«, stieß seine Mutter hervor, als sie die Uhr unter dem Kopfkissen gefunden hatte. Für einen Moment hoffte er, dass sie nicht genauer hinsah. Doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht.
»Wer?«, fragte sie ihn und zeigte auf den Riss. Milo reagierte nicht. »Wer war das?«, wiederholte sie in barschem Ton.
Er regte sich noch immer nicht, sondern stand nur da und hielt sich am Türrahmen fest.
»Sag mir sofort, wer das gewesen ist!« Sie stapfte an ihm vorbei in den Flur und nahm das Telefon in die Hand. »Dieses Mal kommen sie nicht so einfach davon.«
Doch Milo schwieg und begann zu weinen. Er wusste, dass dies nichts bringen würde. Seine Mutter würde Bens Eltern anrufen, diese würden es abstreiten und es im besten Falle wie einen Unfall aussehen lassen. Dafür würde Ben schon sorgen, indem er seinen Freunden eintrichtern würde, was sie zu sagen hätten. Und dann würde es nur noch schlimmer werden. »Petze« würden sie ihn nennen und weiter tyrannisieren.
Milo ließ seine Mutter mit dem Telefon im Flur stehen, drehte sich blitzschnell in sein Zimmer, schloss die Tür ab und warf sich in sein Bett, wo er anfing, bitterlich zu weinen.

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